14. Juli 2021 • Aktuelles
Der beste Müll ist bekanntlich der, der nicht entsteht. Einige Bio-Startups füllen daher neue Produkte wie Passata, Linsen oder Nussmus in das gute, alte Joghurt-Pfandglas. Klingt super, ist super – hat aber doch noch ein paar Haken.
72 Kilogramm Verpackungsmüll. So viel verursacht jede und jeder von uns im Durchschnitt pro Jahr. Das ist die offizielle Zahl vom Statistischen Bundesamt, trocken und abstrakt. Aber sie steht für einen unglaublichen Berg an Folien, Dosen, Kartons, Plastikschalen und Einwegflaschen. Vor allem Verpackungen mit mehreren Schichten wie Chipstüten und Getränkekartons lassen sich nur teilweise bis gar nicht recyceln, so dass Deutschland einen Großteil des Plastikmülls verbrennt oder exportiert. Mehrweg vermeidet Plastikmüll und Ressourcenverschwendung. Anders als in den Discountern und im Supermarkt ist Mehrweg bei Saft, Wasser und Bier im Bio-Fachhandel eine Selbstverständlichkeit geblieben. Und auch Milch, Sahne und Joghurt gab es immer auch im Pfandglas aus dem Milch-Mehrweg-Pool.
Regionale Kreisläufe mit kurzen Transportwegen und häufige Neubefüllung sorgen dabei für die beste Ökobilanz. Tatsächlich schaffen Glasflaschen bis zu 50 Runden, und auch danach geht es weiter, denn aus Altglas lässt sich hervorragend neues Pfandglas herstellen. Glas hat außerdem den Vorteil, dass keine Fremdstoffe ins Lebensmittel übergehen. Das passiert bei Plastik und Altpapier immer wieder. Einweg-Plastikflaschen können zum Beispiel je nach Lagerdauer, Licht und Temperatur Chemikalien wie Acetaldehyd, Antimon und hormonaktive Substanzen abgeben.
Aber geht da nicht noch viel mehr als Milch und Joghurt? Zum Beispiel Bio-Fruchtpüree aus Brasilien? Schon vor acht Jahren hatte Jonas Schmidle von Bananeira diese Idee und wagte einige Pilot-Abfüllungen war damit aber einfach zu früh dran. Erst 2018 zündete der Funke richtig, denn mittlerweile waren Müllproblem und Plastikkrise ein Riesenthema und „Zero Waste“ eine Bewegung geworden. Das erste und nach wie vor am besten laufende Bananeira-Produkt im Mehrwegglas war Tomaten-Passata.
Schnell erkannten weitere Bio-Startups die Vorteile von Mehrweg: fairfood Freiburg füllt vor allem Nüsse, Nussmus, Trockenfrüchte und neu auch Nussbolognese und veganes Pasta-Topping ins Joghurtglas, die Firma blattfrisch diverse Feinkostsalate, wie zum Beispiel Farmersalat und einen veganen Eiersalat, aber auch Milchreis und Birchermüsli. Diese und immer neue Unternehmen bringen ordentlich frischen Wind in das Mehrweg-Engagement der Biobranche. Durch Kooperationen mit Alnatura erreichen sie seit Mai 2020 zusätzliche Kund*innen. Erhältlich sind fairfood-Produkte, Tees vom Berliner Karma-Kollektiv und seit einem Jahr von Bananeira unter der Marke „Pfandwerk“ unter anderem Passata, Ketchup, Linsen, Reis und Rohrohrzucker.
Mehrere Regionalgroßhändler setzen ebenfalls auf „trockene“ Produkte im Mehrwegglas, zum Beispiel Naturkost Erfurt mit seinen „Goldgläschen“, Kornkraft mit der eigenen Hausmarke und Rinklin mit „Rinklins Bio – clever verpackt“.
Etiketten in der Waschstraße
Die bekannten Joghurt-Pfandgläser haben den großen Vorteil, dass ein bestehendes Mehrwegsystem mit etablierter Infrastruktur genutzt wird und dass auch die Umverpackung für den Transport eine Pfandkiste ist. Trotzdem war der Start mit Nussmus und Co. im Pfandglas streckenweise holperig. Einige Molkereien entdeckten plötzlich Etiketten in ihrer Spülstraße, die sich nicht ablösen wollten. Dann wieder gingen Etiketten zwar ab, lösten sich aber nicht auf und verstopften die Anlage.
In der Arbeitsgruppe Mehrweg im BNN kamen die Probleme auf den Tisch. Besonders engagiert haben sich dabei die vier Startups der Initiative „Vier für alle“: Bananeira, fairfood, GutDing und Karma Kollektiv. Schnell wurde deutlich, dass es gemeinsame Richtlinien braucht. So entstand der Leitfaden zur Nutzung des Milch-Mehrweg-Pools, erstellt mit tatkräftiger Unterstützung von Tobias Bielenstein von der Arbeitskreis Mehrweg GbR. Dieser Arbeitskreis hat sich bisher vor allem um Mehrweg bei Wasser und Bier gekümmert und vergibt das runde Mehrweg-Zeichen „Für die Umwelt“.
„Die AG im BNN ist Gold wert als Austauschforum“, sagt Sarah Hausmann von fairfood, „gerade auch gemeinsam für die Zusammenarbeit mit dem Bio-Großhandel und den Molkereien.“ Und Georg Neubauer von Blattfrisch ergänzt: „So ein cooler Austausch, so ein Wohlwollen gegenüber den anderen. Ich würde behaupten, wenn es da zu viele Egoismen gäbe und nicht den Willen zu einem guten Austausch, dann würde das Thema Mehrweg nicht funktionieren.“
Seit November 2020 liegt der Leitfaden von „Vier für alle“ und dem Arbeitskreis Mehrweg nun vor. Er richtet sich an alle Unternehmen, die Gläser des Milch-Mehrweg-Pools nutzen, also Hersteller, Abfüller, Großhändler und Molkereien, aber auch an Neueinsteiger, die zum ersten Mal Lebensmittel in Gläser des Milch-Mehrweg-Pools abfüllen. Dabei geht es nicht nur um die richtigen Etiketten und den richtigen Leim, sondern auch um einen zuverlässigen Glas-Kreislauf, damit Mehrweg wirklich umweltfreundlich ist, und um eine faire Lastenverteilung beim Spülen. Da die Investition für junge Unternehmen zu Beginn zu groß wäre, können sie zunächst Spülkooperationen vereinbaren. „Für kleine Unternehmen ist eine Etikettiermaschine oder eine Waschstraße einfach eine sehr große Hürde“, betont Sarah Hausmann.
Wenn alle sich an den Vorgaben orientieren, spart der Mehrweg-Pool am meisten Energie, weil keine zusätzlichen Waschund Reinigungsgänge anfallen, es weniger Schäden am Glas gibt und die Gläser maximal häufig ihre Runden zwischen Abfüllung, Großhandel, Läden, Verbraucher*innen und zurück drehen. Zusätzliche dezentrale Spülstationen in jeder Region würden die Öko-Bilanz des Systems noch weiter verbessern.
Wichtig ist dabei auch die Mitarbeit der Bio-Kund*innen: Flaschen und Gläser sollten möglichst schnell zurück in den Kreislauf, und dies immer mit Deckel, damit sie nicht beschädigt werden, und ohne problematische Verschmutzung durch „kreative“ Nutzung. Also niemals Motorenöl, Zigarettenstummel oder Putzmittel einfüllen! Eine andere Sorge konnte im Milch-Mehrweg-Pool nach Spül-Tests ausgeräumt werden: Es gibt keinerlei Probleme mit Rückständen von Nüssen, die für Allergiker ein Problem sein könnten. Frischglas ist ebenfalls ein Thema in der Mehrweg-AG: Wer kauft wie viel nach – und wie kommt gespültes Glas vom Großhandel zurück auch in die kleineren Unternehmen, die sie wieder befüllen wollen?
Vier für alle – Acht für alle
„Vier für alle“ erinnert an „Acht für alle“. Unter diesem Namen gab es vor 30 Jahren schon einmal ein gemeinsames Mehrwegsystem in der Naturkostbranche, koordiniert von der Arbeitsgemeinschaft für Abfallvermeidung (AfA). Mehrere Unternehmen hatten sich damals auf acht einheitliche Glasformen geeinigt. Die gute Idee scheiterte allerdings aus unterschiedlichen Gründen. Es gab nicht genügend Teilnehmer*innen, der Glas-Rücklauf war zu gering und die Spülstationen nicht professionell genug für die sehr unterschiedlichen Lebensmittel wie Honig und Aufstriche. Es gab auch nur zwei Spülstationen, so dass weite Transporte die Bilanz verhagelten.
Grundsätzlich gilt: Je mehr Hersteller einheitliche Poolflaschen oder Poolgläser nutzen, umso reibungsloser und klimafreundlicher wird ein Mehrweg-System. „Vielleicht brauchen wir eine zusätzliche Glasform, aber wir sollten kein komplett neues System aufziehen“, meint daher Jonas Schmidle von Bananeira. Das bestehende System funktioniere und sei bekannt. Auch Georg Neubauer von Blattfrisch sieht die Notwendigkeit für das eine oder andere neue Glas-Format, zum Beispiel, um die Waschbarkeit zu verbessern, aber auch, um passende Größen für Marmelade und Aufstriche zu haben. Künftig brauche es außerdem viele dezentrale Waschlösungen, nicht nur die Waschstraßen der Molkereien. Und auch bessere Daten zum System: Wie hoch sind die Rücklaufquoten wirklich, wie viel Glasbruch gibt es und wo, was lässt sich im Prozess optimieren?
Nicht immer gute Ökobilanz im Glas
Auf Dauer ist das recht schwere Glas aber wohl nicht die einzige Lösung für Mehrweg. So hat sich im Forschungsprojekt „Innoredux“ herausgestellt, dass die Ökobilanz für Trockenprodukte wie Mandeln oder Nudeln am besten ist, wenn sie unverpackt verkauft werden oder in leichten Verpackungen und größeren Portionen. Beim Pfandglas stimmt dagegen bei sehr leichten Produkten das Verhältnis zwischen Verpackung und Produktmenge nicht, zudem der Einwegdeckel nur unter größerem Energieaufwand recycelt werden kann. Nicht nur das Verpackungsmaterial entscheide über die Umweltfreundlichkeit, heißt es in der Studie vom Institut für ökologische Wirtschaftsforschung (IÖW) und dem Institut für Energie und Umweltforschung (ifeu). Bei fairfood zum Beispiel kam Papier als Alternative zum Plastikbeutel dennoch nicht in Frage, weil Nüsse und Trockenfrüchte darin austrocknen. Und bei biologisch abbaubarem Plastik ist die Abbauzeit zu lang für kommunale Kompostanlagen, so dass die Verpackungen im gelben Sack landen. Herkömmliches Plastik wollte das Unternehmen für die hochwertigen Nüsse und Trockenfrüchte aber nicht länger nutzen.
Sarah Hausmann von fairfood sieht das Engagement im Milch-Mehrweg-Pool außerdem als einen Weg, das Denken über Verpackungen zu verändern, eine Bewegung anzustoßen. „Es geht auch um Plastikvermeidung zum Schutz vor Mikroplastik. Unverpackt ist die nachhaltigste Variante, aber wir haben heute andere Konsumgewohnheiten, die müssen abgedeckt werden, es gibt mehr Singlehaushalte, und wir sind mehr unterwegs.“ Wünschenswert seien zum Beispiel mehr Innovationen bei Mehrweg aus Mono-Kunststoffen. Auch Mehrwegdeckel für Pfandglas würden die Ökobilanz verbessern. Die bisherigen werden recycelt – zumindest der Weißblechanteil –denn die Gefahr ist zu groß, dass die Dichtung beschädigt ist und die abgefüllten Lebensmittel dann nicht mehr sicher sind. Auf der Suche nach neuen Mehrweglösungen ist zum Beispiel Circolution GmbH, die auf leichte und modulare Mehrweggefäße aus Edelstahl, Borosilikatglas und Kunststoff setzt.
Georg Neubauer blickt noch weiter in die Zukunft: „Es ist ein Start, dass Unternehmen mit dem Milch-Mehrweg-Pool die Möglichkeit haben, in das Pfandsystem einzusteigen. Aber dabei kann und darf es nicht bleiben, das kann nur der erste Schritt auf dem Weg zu einem anerkannten Mehrwegsystem sein. Man muss den Unternehmen gute Alternativen bieten, damit auch größere Player am Ende mitmachen können und auch nicht so viele Ausreden haben. Mehrweg ist auf jeden Fall das, was wieder ansteht – der Zeitgeist ist weit genug und die Gesetzeslage tut das ihre dazu“.
Der Bio-Fachhandel habe das Thema dankbar aufgenommen. Sarah Hausmann erinnert aber auch daran, dass eine Zusammenarbeit mit konventionellen Molkereien, die auf Pfand setzen, ein wichtiger Schritt wäre, da dort viel größere Glasmengen im Umlauf seien. Georg Neubauer geht dennoch davon aus, dass der Naturkostfachhandel bei Mehrweg zunächst Pionier bleibt. „Das Sortiment ist am größten, und es kaufen viele dort ein, die Spaß am Engagement haben und willens sind, einen gewissen Mehraufwand zu treiben. Der konventionelle Lebensmittelhandel wird dann nachziehen, wie bei allem, was gut funktioniert.“