10. Juli 2023 • Aktuelles
Die Kritik ist verheerend: Umweltorganisation, Verbraucherschützer und Verbände warnen einhellig vor dem Gesetzesentwurf der EU-Kommission zur Neuen Gentechnik. Und was sagt die Politik? Wir haben die Stimmen gesammelt.
Bereits der durchgesickerte Leak des Gesetzesentwurfs Ende Juni ließ tief blicken. Kurzum: Die EU-Kommission geht den Lobbyinteressen der Konzerne auf dem Leim und ist offenbar bereit dafür einige Grundprinzipien über Board zu werfen.
Der nun offiziell veröffentlichte Entwurf unterscheidet sich nur in Detailfragen vom Leak, zu dem sich der BNN-Geschäftsführerin Kathrin Jäckel bereits positionierte. Fest steht mit dem Entwurf: Zwar bleibt die neue Gentechnik für Bio weiterhin verboten. Vorsorgeprinzip, Risikoprüfung, Rückverfolgbarkeit, Transparenz und Kennzeichnungspflicht stehen aber nach wie vor vor dem Aus. Die Konsequenzen für Verbraucher*innen, Züchter*innen, Landwirt*innen, Herstellungs- und Handelsunternehmen der gentechnikfrei wirtschaftenden Unternehmen wären katastrophal. Allerdings ist es noch nicht zu spät, denn bisher gibt es nur einen Entwurf für ein neues Gesetz. Nun liegt der Ball beim Europäischen Parlament und beim Rat. Denn sie entscheiden, ob das Gesetz durchkommt.
Einige Positionen von Verbänden, Verbraucherschutz, Unternehmen sowie Umweltorganisationen im Überblick:
„Gentechnik widerspricht den Grundprinzipien von Bio. Die Kommission hat die klare Position der Bio-Bewegung erkannt, auch künftig bleibt Gentechnik in der ökologischen Produktion ausgeschlossen. Weil die Kommission aber die Pflicht zur durchgängigen Kennzeichnung gentechnisch manipulierter Pflanzen und Produkte von der Züchtung bis zum Endprodukt abschaffen will, bürdet sie die hohen Kosten für die Verhinderung von Gentechnik-Verunreinigungen vollständig der ökologischen Land- und Lebensmittelwirtschaft auf. Damit wird das Verursacherprinzip auf den Kopf gestellt. Auch die bewährten Haftungsregeln für Schäden durch Gentechnik-Pflanzen in Deutschland stehen durch den Vorschlag der EU-Kommission in Frage.“
Damit ist völlig unklar, wie Bio-Höfe überhaupt erkennen können, ob in der Region Gentechnik-Anbau betrieben wird, wo Kontaminationsrisiken bestehen und mit welchen – eventuell gemeinsam genutzten – Maschinen Gentechnik-Ware in Berührung kommt oder in welchen Verarbeitungs- und Handelsunternehmen die Gentechnik-Erzeugnisse genutzt und somit Bio-Lebensmittel verunreinigen können.
„Die gentechnikfreie konventionelle und ökologische Erzeugung von Lebensmitteln ist ein großer Wettbewerbsvorteil für europäische Bäuer*innen. Diese wertvollen Märkte sollen jetzt leichtfertig zu Gunsten hypothetischer Industrie-Versprechen geopfert werden, kommentiert die Gentechnik-Expertin Annemarie Volling der AbL.
Mit zum Teil hohen Investitionen hätten sich gentechnikfrei wirtschaftende Bäuer*innen und Lebensmittelverarbeiter*innen ihre Märkte aufgebaut. Der heutige Gesetzesvorschlag würde ihnen dafür jegliche Grundlagen entziehen. Er bedrohe bäuerliche und handwerkliche Existenzen. Die Interessen der gentechnikfreien Wertschöpfungskette und der Verbraucher*innen, die sich auch weiterhin gentechnikfrei ernähren wollen, würden missachtet, sagt Volling. Die AbL vertritt sowohl konventionell als auch ökologisch wirtschaftende Landwirt*innen.
Die Bio-Verbände Bioland, Naturland, Demeter und Biokreis stellen sich ebenso unisono gegen eine Deregulierung.
Die Bingenheimer Saatgut AG ist Mitglied des BNN und handelt ausschließlich mit ökologischem Saat- und Pflanzgut.
„Die Deregulierung von neuen Gentechnik-Pflanzen würde zu einer Flut von patentiertem Saatgut führen, das auf den europäischen Markt kommt, und zu einem ‚Patentdickicht‘, das für die meisten Pflanzenzüchter*innen und Saatguterzeuger*innen undurchschaubar wäre“, kritisiert Gebhard Rossmanith von der Bingenheimer Saatgut AG.
„Dies würde den Zugang zu genetischem Material für Pflanzenzüchter*innen massiv behindern, obwohl der freie Zugang für die Entwicklung neuer Sorten unerlässlich ist. Zudem würden die großen Saatgutkonzerne ihre Marktmacht so weiter ausbauen können. Insbesondere kleinere und mittelständische Züchtungsunternehmen würden vom Markt verdrängt, obwohl gerade deren Innovationspotential zur Weiterentwicklung der Kulturpflanzenvielfalt in Zeiten der Klima- und Biodiversitätskrise dringend gefragt ist.“
Deutliche Worte finden auch die Verbraucherschützer*innen. „Die fehlende Transparenz und fehlende Sicherheit sind aus Verbraucherschutzsicht inakzeptabel“, kommentiert Michaela Schröder, Geschäftsbereichsleiterin Verbraucherpolitik im Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv): „Zudem birgt der Vorschlag aus Brüssel die Möglichkeit, Gentechnikprodukte mit potenziellen positiven Eigenschaften zu kennzeichnen, ein großes Täuschungspotential. Die Mitglieder im Europäischen Parlament und die Bundesregierung müssen sich dafür einsetzen, dass der rechtliche Rahmen, der bislang für Gentechnik gilt, auch für neue gentechnische Verfahren gelten muss.“
Nach Ansicht des BUND basiere der Vorschlag auf leeren Versprechungen der Industrie über noch nicht marktreife Produkte. Zudem fehle eine grundlegende und unabhängige Bewertung der tatsächlichen Nachhaltigkeit der neuen GVO.
Ebenso wie Bio-Verbände warnt auch der BUND vor einer Sabotage des Ökolandbau-Ausbaus. Daher fordert die Umweltschutzorganisation neben einer Verbesserung der Zulassungsprüfung und Risikoabschätzung von GVO allgemein, die Sicherstellung der Kennzeichnung und Rückverfolgbarkeit, die Entwicklung von Nachweisverfahren - auch eine stärkere Förderung von ökologischen Innovationen.
Bereits am 30. Juni 2023 warnte die transnationale Umweltschutzorganisation Greenpeace vor möglichen negativen Auswirkungen auf Wildbestäuber im Zusammenhang mit Gentechnik-Pflanzen.
Cem Özdemir (Bundeslandwirtschaftsminister): „Für mich als Minister für Landwirtschaft und Ernährung sind bei der Regelung zu Neuer Gentechnik entscheidend, dass sowohl die Interessen der Verbraucherinnen und Verbraucher als auch die der Landwirtschaft im Mittelpunkt der Ausgestaltung stehen. Im aktuellen Vorschlag ist das besonders bei zwei zentralen Themen nicht ausreichend berücksichtigt – bei der Patentierung und der Koexistenz. Unsere Land- und Lebensmittelwirtschaft, egal ob konventionell oder ökologisch, darf nicht in ihrer wirtschaftlichen Substanz gefährdet werden.“
Wir finden es wichtig, dass der Minister prominent auf die Koexistenz abstellt. Allerdings braucht es für eine umsetzbare Koexistenzregelung zwischen konventioneller Land- und Lebensmittelwirtschaft und Ökolandbau bzw. Bio-Sektor vor allem auch eines: nämlich eine Kennzeichnungspflicht über die gesamte Wertschöpfungskette hinweg!
Wir werden ihn beim Wort nehmen und daran erinnern, dass der Ökolandbau und Bio nicht gefährdet werden dürfen!
Seine Kollegin Bundesumweltministerin Steffi Lemke: „Der Schutz der Verbraucherinnen und Verbraucher hat für mich oberste Priorität. Mir sind in der Diskussion über den Vorschlag der EU-Kommission zu Neuer Gentechnik vor allem zwei Punkte wichtig: Die Interessen der Verbraucherinnen und Verbraucher müssen gewahrt bleiben. Sie haben das Recht zu wissen, was sie kaufen und was sie konsumieren – und müssen das im Lebensmittelregal im Supermarkt auch erkennen können. Deshalb ist die Kennzeichnungspflicht für gentechnisch veränderte Pflanzen und daraus hergestellte Produkte entscheidend, denn nur damit entsteht Wahlfreiheit für die Menschen beim Kauf von Lebensmitteln.“
Deutliche Worte kamen von Entwicklungsministerin Svenja Schulze: "Die Deregulierung der Gentechnik ist nicht die Antwort auf die Frage nach dem Welthunger", kommentierte sie gegenüber der Funke-Mediengruppe und auf Twitter. Schulze kritisierte, die Gentechnik habe in ihrer Geschichte noch keinen wesentlichen Beitrag zur Ernährungssicherung geleistet.