08. Februar 2024 • Aktuelles
Das Europäische Parlament hat gestern, trotz erheblicher Bedenken und Warnungen aus der Wissenschaft, der Zivilgesellschaft und der Lebensmittelbranche, grundsätzlich für die Deregulierung von Neuen Gentechniken (NGT) gestimmt.
Das Europäische Parlament hat mit einer knappen Mehrheit für die Abschaffung von Koexistenzregeln und die deutliche Abschwächung der Risikoprüfung bei gentechnisch veränderten Lebensmitteln gestimmt, was schwerwiegende Auswirkungen auf Landwirtschaft und Umweltschutz haben könnte. Bei der Abstimmung am Mittwoch fiel das Ergebnis mit 307 zu 263 Stimmen und 41 Enthaltungen zugunsten einer zukünftigen Deregulierung aus. Diese Entscheidung signalisiert eine Abkehr vom bisherigen Vorsorgeprinzip und der Wahlfreiheit im Umgang mit Gentechnik in Lebensmitteln, was die Regulierung dieser Technologien in der EU grundlegend verändern könnte.
Positiv sind die angenommenen Änderungsanträge zur Kennzeichnungspflicht entlang der gesamten Wertschöpfungskette sowie die Pflicht der Rückverfolgbarkeit. Allerdings besteht keine Pflicht zur Vorlage von Nachweisverfahren.
Ebenfalls fehlen klare Maßnahmen zur Koexistenz und Haftungsregelungen, die für den Schutz der gentechnikfreien und ökologischen Produktion, Verarbeitung und Handel entscheidend sind.
Wenn der aktuelle Entwurf durchkommt, könnte das für schwerwiegende Verunsicherungen bei ökologisch und gentechnikfrei wirtschaftende Unternehmen sorgen, da ein klarer Orientierungsrahmen fehlt. Den könnten zukünftig auch Mitgliedsstaaten nicht den Unternehmen geben, wenn das Verbot nationaler Koexistenzmaßnahmen in diesem Entwurf Bestand hat. Deshalb: Für wirksame Koexistenzmaßnahmen braucht es klare Regeln.
Das Europäische Parlament betonte die Wichtigkeit des Schutzes des europäischen Züchtungssektors vor Patenten auf Saatgut. Es wurde deutlich gemacht, dass Patente nicht für genetisches Material gelten sollten, das auch durch traditionelle Zuchtmethoden erzeugt werden kann.
Allerdings ist noch völlig offen, wie sich die Patentfrage klären lässt. Die EU-Biopatentrichtlinie erlaubt die Patentierung von Pflanzen, die durch spezielle technische Verfahren gezüchtet wurden. Expert*innen und das Europäische Patentamt bestätigen, dass Pflanzen oder Saatgut, die durch neue genomische Techniken (NGT) entwickelt wurden, patentierbar sind. Obwohl in Änderungsvorschlägen für die neue NGT-Verordnung ein Verbot der Patentierung von NGT-Pflanzen gefordert wird, wäre dies rechtlich unwirksam, da die Erteilung von Patenten durch die Biopatentrichtlinie und nicht durch die neue Verordnung geregelt wird. Das Verbot der Patentierung von NGT-Pflanzen müsste entsprechend ins europäische Patentrecht integriert werden, um wirksam zu sein.
Die Biobetriebe setzen nun darauf, dass die Mitgliedsstaaten im Rat ihr Recht auf Rückverfolgbarkeit und nationale Koexistenzmaßnahmen sichern, wenn diese den Gesetzesentwurf zur Deregulierung von NGT-Pflanzen nicht als Ganzes klar ablehnen. Akteur*innen der Biobranche benötigen ein klares Bekenntnis seitens der europäischen Regierungen, weiterhin ohne Gentechnik wirtschaften zu können. Hier ist auch die deutsche Regierung gefordert: Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir hat versprochen, dass jede*r, der gentechnikfrei wirtschaften will, es auch in Zukunft tun können soll. Wir nehmen ihn beim Wort!
Nun müssen wir die Positionierung des Rats der Europäischen Union abwarten. Erst danach kann der Gesetzgebungsprozess in die nächste Phase, die Trilogverhandlungen, übergehen.
Ein im Dezember von der spanischen Ratspräsidentschaft vorgeschlagener Kompromiss fand bisher keine qualifizierte Mehrheit. Der belgische Ratspräsident, seit Januar im Amt, hat den Vorschlag mit minimalen Änderungen versehen, unter anderem durch die Einrichtung einer Expertengruppe für Patentfragen und die Berücksichtigung von Opt-out-Möglichkeiten für Staaten mit kleinen Inseln.
Trotzdem erhielt der Vorschlag auch bei einem gestrigen Treffen der ständigen Vertreter*innen der Mitgliedstaaten keine qualifizierte Mehrheit. 16 EU-Staaten, darunter Frankreich, unterstützten den Kompromiss, der jedoch weniger als die benötigten 65% der EU-Bevölkerung repräsentierte. Die EU wird nun über das weitere Vorgehen beraten müssen. Die Zeit reicht wahrscheinlich nicht aus, um die Verhandlungen bis Ende Februar abzuschließen und die betreffende Verordnung noch in dieser Legislaturperiode zu verabschieden, berichtet der Informationsdienst Gentechnik.