10. November 2020 • Aktuelles
Eine kleine Gentechnik-Geschichte aus der Sicht des Brokkolis. Von Petra Boie
Ich habe es geschafft! Es war ein langer Weg, aber nun stehe ich hier. Über mir blauer Himmel, Wolken, neben mir Baumreihen, unter mir gesunder, feuchter, humusreicher Boden, der vor Regenwürmern nur so strotzt. Wo fing meine Reise an? Nun, eigentlich vor mehr als 2000 Jahren, als ich noch wild und vielfältig war und man begann, mich irgendwo im nördlichen Mittelmeerraum zu zähmen. Langsam aber stetig, Jahrzehnt um Jahrzehnt, verband ich mich mehr mit den Menschen. Die ganze Wegstrecke hier zu erzählen, würde allerdings viel zu lange dauern.
So springe ich lieber direkt in das denkwürdige Jahr 2020 n. Chr., als das dritte Dürrejahr in Folge Deutschland und eine Pandemie die ganze Welt in Atem hielt. Gärtner*innen und Landwirt*innen fragten sich: „Wie soll es weiter gehen?“ Die Maßnahmen zum Eindämmen der Pandemie lösten eine Selbstverständlichkeit nach der anderen auf: Keine Flugzeuge waren über mir zu sehen, auch Menschen sah ich deutlich weniger. Gesellschaftlich war das damals wohl nicht einfach. Gräben taten sich auf und im Sozialen sowie im Wirtschaftlichen herrschte eine große Verunsicherung. So manchem Menschen wurde in dieser Ausnahmesituation bewusst: Die Art und Weise des Umgangs mit sich selbst und mit der Natur war nicht zukunftsfähig. Und weil das damals ein echter Wendepunkt war, erzähle ich euch aus meiner Sicht – der eines Brokkoli – was es damals bedeutete, als Kulturpflanze nicht zukunftsfähig zu sein.
Ich war noch gar nicht so lange auf den Tellern der Deutschen zu finden, doch ich hatte eine steile Karriere hinter mir und war, ja das schmeichelte mir, zu einer der begehrtesten Gemüsearten geworden. Meine Zähmung war sehr weit fortgeschritten und mir wurde oft ein bisschen schwindelig, weil alles so schnell ging. Die Zeiten, in denen ich vor mich hin blühen durfte, um eine weitere Generation zu bilden, waren so gut wie vorbei. Von meiner Vielfältigkeit war nicht mehr viel übriggeblieben. Ich befand mich auf großen Feldern und neben mir standen lauter sehr gleiche Brokkoli. Das war ziemlich merkwürdig. Über Vögel hörte ich von fernen Verwandten, dass diese noch ein bisschen ursprünglich sein durften, aber sie kaum Verwendung fänden. Ich hörte von „Un-einheitlichkeit“, „langem Erntefenster“, „zu wenig Ertrag“, „shelf life“, was immer damit auch gemeint war. Und dann eines Tages nach einem Ausflug in ein Labor nannten mich die Menschen plötzlich stolz „CMS-Hybrid“, und ich merkte erst im Nachhinein auf dem Feld, dass meine Blüten kaputt waren. Das habe ich gar nicht mehr verstanden, und mit der Zukunftsfähigkeit war es dann auch vorbei. Gewachsen bin ich trotzdem und brachte zuverlässige Erträge. Zumindest bis die Sommer immer heißer und trockener wurden. Denn ab da klappte es mit mir gar nicht mehr so richtig, und die Gärtner*innen waren ratlos.
Ab und zu hörte ich nun von „Trockenresistenz-Genen“ und „Crispr-Cas9“. Das gefiel mir vom Klang her schon gar nicht gut. Alles sollte plötzlich ziemlich schnell gehen. Und so musste ich wieder in ein Labor. Es zwickte sehr, und danach war mir mehr als nur ein bisschen schwindelig. Zurück auf dem Feld stimmte etwas bei mir nicht mit der Photosynthese. Es wurde „off-target-Effekt“ genannt, irgendein Eiweiß war wohl verrutscht. So hatte ich endgültig ausgedient und kam, wie schon viele Artgenossen vor mir, in den Sortenhimmel. Doch traurig musste ich gar nicht sein, denn auf der Erde wurde es ohnehin zunehmend weniger lebenswert: Die Landschaften wurden öder, die Felder trockener und die Wälder verloren ihr Grün.
Ich hatte die Hoffnung für die Welt schon aufgegeben, als ich wahrnahm, wie sich dort unten vereinzelt etwas regte. Unter den Menschen schienen nicht alle den Mut verloren zu haben, denn im Wald spross neues wildes Grün und auf den Feldern konnte man Reihen von frisch gepflanzten Bäumen sehen. Ich beobachtete, wie Menschen diese Bäumchen gossen und sich um die Natur sorgten. Sie nannten es Agroforstwirtschaft. Irgendwas begann sich zu bewegen und ich bemerkte, dass ich große Sehnsucht bekam, dort dabei zu sein, wachsen zu können, wieder von Menschen bewundert und geachtet zu werden und mich dann auch gerne für eine feine Mahlzeit herzugeben.
Ich nahm Anlauf, sprang über die Himmelskante und flog als nachbaufähiges Bio-Samenkorn runter auf die Erde, wo ich von vielen Gärtner*innen begeistert empfangen wurde. Durch den engagierten Einsatz der ökologischen Züchter*innen blieb ich nicht lange alleine, sondern es wurden immer mehr nachbaufähige Sorten gezüchtet, die sich den verschiedenen Standort- und Klimabedingungen anpassen und die Menschen langfristig mit leckerem und wertvollem Gemüse versorgen konnten.
Das ist meine Geschichte und ich bin zuversichtlich, dass sie in Erinnerung bleibt und die Menschen nach ein paar Jahrzehnten nicht erneut vergessen, wie sie im Einklang mit uns Kulturpflanzen leben können.
Die Autorin:
Petra Boie (hier mit jungen Brokkoli- Pflanzen) kam nach der Ausbildung zur Gemüsegärtnerin und dem Studium der Agrarwissenschaft für ein Agrarreferendariat nach Hessen. Sie ist seit 1999 in Bingenheim tätig und seit 2001 im zweiköpfigen Vorstand der AG für den Bereich Vertrieb zuständig.