02. Mai 2022 • Aktuelles
Gemüse aus Ökozüchtung ist unverzichtbar: als Beitrag für mehr Vielfalt, als Alleinstellungsmerkmal für den Naturkostfachhandel und um nicht von Saatgutkonzernen abhängig zu werden
Sieben Jahre lang haben Naturkostgroßhändler die Züchtung der Vereine Kultursaat und saat:gut mit einem festen Beitrag unterstützt. Mehrere neue Sorten sind in dieser Zeit entstanden oder in der Pipeline. Jetzt kommt es darauf an, sie auch in die Regale und an die Endkunden zu bringen.
Solara war ein Findelkind, eine Laune der Natur. 2008 fand Kornelia Becker in einer Population mit grünen Zucchinis eine Pflanze mit gelben Früchten. Sie erntete deren Samen und beschloss, damit weiterzuarbeiten. „Es war eine Inspiration“, beschreibt die Ökozüchterin ihre damalige Entscheidung. „Ich richte mich oft nach dem, was mir begegnet und was mich anspricht“. Bei Solara war es das kräftige Gelb – und das Wissen, dass es für den Erwerbsgartenbau noch keine geeignete samenfeste gelbe Zucchini gab. In den ersten Jahren gab es immer wieder Rückschläge durch Ausreißer, also einzelne Zucchini-Pflanzen, deren Früchte grün statt gelb waren. Kornelia Becker versuchte den Grund dafür herauszufinden und entdeckte etwas: Pflanzen, bei denen die untersten Blätter gelb waren und der Fruchthals gelbgrün statt grün, lieferten einheitlich gelbe Früchte, ohne Ausreißer. Also arbeitete sie damit weiter und schließlich ging Solara 2018 in den Probeanbau an mehreren Standorten. Im Vergleich mit einer F1-Hybride zeigte sie gleichwertige Erträge und schließlich nahm die Bingenheimer Saatgut AG Solara 2021 ins Sortiment auf.
Der offene Wuchs erleichtert das Abernten, die Zucchinis gehen leicht ab und ergeben über 90 Prozent vermarktungsfähige Ware.
Die Rückmeldungen der Gärtner seien positiv, sagt Kornelia Becker: „Der offene Wuchs erleichtert das Abernten, die Zucchinis gehen leicht ab und ergeben über 90 Prozent vermarktungsfähige Ware“. Diese Merkmale waren für sie von Anfang an wichtige Zuchtziele, weil die Erwerbsgärtner darauf Wert legen. Hinzu kamen eine attraktive Färbung und der Geschmack, den die Züchterin als „leicht bis ausgeprägt süß, nussig und aromatisch“ beschreibt. Wichtig ist auch ein Effekt, den nur die Ökozüchtung bietet. Die Pflanzen sind über zwölf Jahre unter biologisch-dynamischen Anbaubedingungen gewachsen, mit begrenzter Menge organischen Düngers und komplett ohne chemischen Pflanzenschutz. Bei der Selektion wurden immer wieder die Pflanzen ausgewählt, die damit gut zurechtkamen. „Die haben Bio von Anfang an gelernt“, sagt Kornelia Becker. Im Gegensatz zu herkömmlichem Öko-Saatgut, das unter konventionellen Bedingungen gezüchtet und nur ein Jahr lang auf einem Biobetrieb angebaut und vermehrt wurde.
Fertig mit Solara ist Kornelia Becker nicht. Jetzt gilt es, die Neuzüchtung zu erhalten und regelmäßig frisches, hochgradig sortenreines Saatgut als Grundlage für die Saatgutvermehrung zu gewinnen und die Partner in Anbau und Handel dafür zu begeistern.
Solara ist eine von mehreren Sorten, deren Entwicklung Naturkostgroßhändler über die letzten sieben Jahre unterstützt haben. Andere sind der Chicorée Etardo, der Brokkoli Rasmus, die Schlangengurke Cleopha oder die Einlegegurke Liefje.
Im Netzwerk der Ökozüchter ist die Bingenheimer Saatgut AG der wichtigste Vertriebsweg für Sorten aus Ökozüchtung. „Die Sorten werden fleißig gekauft“, sagt Geschäftsführerin Petra Boie. „Dabei gibt es eine deutliche Diversifizierung bei den Kunden“. Erwerbsgärtnereien, die den Großhandel beliefern, würden eher auf etablierte Züchtungen setzen und auf Wurzelgemüse wie Bete und Pastinaken. Bei Fruchtgemüse oder Salaten sei die Nachfrage dieser Kunden nicht so groß. Als Ausnahme erwähnt Petra Boie die Schlangengurke Arola: „Sie hebt sich durch ihren leckeren Geschmack und ihre dickere, leicht bestachelte Schale von den Standardhybriden ab“. Das mache sie für die Gärtner interessant. „Direktvermarkter und Solawis probieren öfter auch Neues aus“, ist Boies Erfahrung. Im Kundenkontakt am Marktstand oder im Hofladen ließen sich die Besonderheiten samenfester Sorten besser erklären. „Bei den Solawis geht es eben auch um grundsätzliche Ernährungsfragen und um die Art des Wirtschaftens“. Da seien samenfeste Ökozüchtungen oft der Normalfall.
Weltweit teilen vier Unternehmen 50 Prozent des Marktes für kommerziell genutztes Saatgut unter sich auf.
Eine dieser grundsätzlichen Fragen ist die Macht der großen Saatgutkonzerne. Weltweit teilen vier Unternehmen 50 Prozent des Marktes für kommerziell genutztes Saatgut unter sich auf. Beim Gemüsesaatgut in der EU haben die fünf größten Unternehmen sogar 95 Prozent Marktanteil, schrieb die EU-Kommission schon 2013. Auch der größte Teil es öko-vermehrten Hybridsaatguts dürfte von diesen Unternehmen stammen. Die Abhängigkeit von diesen Big Playern könnte für die Biobranche verheerende Folgen haben, wenn die EU-Kommission ihre Deregulierung des Gentechnikrechts wie geplant umsetzt. Dann müssten mit neuen gentechnischen Verfahren wie CRISP/Cas hergestellte Pflanzen nicht mehr extra zugelassen und gekennzeichnet werden. CRISPR-Produkte würden unkontrollierbar in den Ökolandbau gelangen, da sie für die Anbauer nicht erkennbar sind.
Nur mit Ökosaatgut von Sorten aus zertifizierter ökologischer Züchtung könnte die Bio-Branche dann ihr umfassendes Gentechnikfrei-Versprechen noch erfüllen. Das spricht dafür, Ökozüchtung noch stärker zu fördern –und deren Ergebnisse auch zu verkaufen. Da ist im Naturkosthandel noch Luft nach oben – trotz des zunehmenden Engagements. Der Schweizer Verein Bioverita versucht seit Jahren, als Plattform Züchter, Verarbeiter und Händler zusammenzubringen. Sein Logo macht Produkte mit Sorten aus Ökozüchtung im Regal sichtbar. Dabei arbeitet der Verein mit mehreren regionalen Großhändlern zusammen. 2021 gelangten so über 1.000 Tonnen Gemüse mit bioverita-Label in den Fachhandel.
„Die Vermarktung über den Großhandel und die Filialisten bleibt schwierig, weil die Ansprüche an Einheitlichkeit und Optik groß sind“, sagt Justine Lipke, Projektmanagerin bei bioverita. „Hinzu kommt, dass die geringeren Erträge der Ökosorten und der oft größere Aufwand im Anbau höhere Erzeugerpreise erforderlich machen.“ Als großen Fortschritt wertet sie, dass nun auch zwei große Jungpflanzenproduzenten mit im Boot sind. „Da viele Erwerbsgärtner ihre Jungpflanzen einkaufen, ist das Angebot der Jungpflanzenbetriebe der Flaschenhals. Daher versuchen wir hier noch weitere Partner zu gewinnen“.
Damit neue Sorten ein Erfolg werden, müssen die Läden sie den Kunden nahebringen, sie kosten lassen, die Besonderheiten erklären. „Das macht sehr viel Arbeit, aber es ist auch ein Alleinstellungsmerkmal, mit dem ich mich als Laden gegenüber den großen Lebensmittelhändlern absetzen kann“, sagt Mimmi Damnitz, Projektmanagerin beim regionalen Großhändler Hakopaxan. Als Beispiel nennt sie die Möhre Gelbe Gochsheimer, die Hakopaxan in den letzten Jahren in den Läden und diese bei ihren Kunden etabliert hätten. Als nächstes ist der Brokkoli Rasmus dran. „Doch uns fehlen noch Anbauer, die Menge reicht nicht, um die Sorte zu etablieren.“ Zudem hält ein Brokkoli nicht so lange wie eine Möhre, das Risiko für Großhändler und Ladner, auf bestellten Mengen sitzen zu bleiben, ist größer.
Die Ökozüchter und viele im Anbau und der Vermarktung engagierte Betriebe sind Mitglied oder Partner der Anbauverbände. Die Verbände engagieren sich auch in Projekten, bei Anbauversuchen und in der Beratung. Doch in den Verbandsrichtlinien finden sich samenfeste Sorten aus Ökozüchtung bisher höchstens als unverbindlicher Wunsch. Einen ersten Schritt, das zu ändern, unternimmt Demeter. Die Delegierten des Verbandes beschlossen 2021, „dass der Verband eine Strategie für den schrittweisen, Umstieg auf nachbaufähige Gemüsesorten entwickeln soll“, sagt Corinna Nieland, die diesen Prozess bei Demeter koordiniert: „Es geht nicht darum auf einen Schlag auf nachbaufähige Sorten umzustellen. Vielmehr wird geklärt, inwiefern die Voraussetzungen für einen Umstieg bei verschiedenen Kulturen erfüllt sind.“ Dabei gebe es kulturspezifisch große Unterschiede, sagt Nieland: „Um die Anliegen aller beteiligten Wertschöpfungskettenakteure angemessen berücksichtigen zu können, wird der Umstieg auf nachbaufähige Gemüsesorten ein Prozess, der über einen längeren Zeitraum erfolgen wird“. Das sollte aber keinen Akteur der Wertschöpfungskette davon abhalten, in seinem Bereich schon mal anzufangen. Denn Ökozüchtungen brauchen zum Wachsen Engagement und Verbindlichkeit aus allen Bereichen.
Eine neue Ökosorte zu züchten, dauert je nach Kultur 10 bis 15 Jahre und kann mehr als 600.000 Euro kosten. Oliver Willing von der Zukunftsstiftung Landwirtschaft schätzt den Bedarf für die laufenden Projekte in Deutschland und der Schweiz auf fünf bis sechs Millionen Euro im Jahr. „Dabei bräuchte es noch viel mehr Bio-Züchtung, etwa bei Tomaten, Paprika oder Kohlarten“, sagt er. „In anderen Bereichen, etwa bei Futterpflanzen, Kräutern oder Steinobst passiert noch kaum etwas.“ Damit etwas passieren konnte, haben 19 Großhändler aus dem Obst- und Gemüsemonitoring des BNN von 2015 bis 2022 jedes Jahr mit 0,015 Prozent ihres Obst- und Gemüseumsatzes die Ökozüchter unterstützt. 280.000 Euro kamen so zusammen. Parallel dazu floss die Idee einer umsatzgekoppelten Förderung in ein Konzept, mit dem die ganze Biobranche die Biozüchtung dauerhaft fördern könnte. Der BÖLW arbeitet im Rahmen eines Projektes weiter an diesem Konzept, zu dem allerdings noch keine konkreten Ergebnisse vorliegen.
Am BNN-Saatgutprojekt beteiligten sich 19 Unternehmen des BNN-Monitoring für Obst und Gemüse im Naturkosthandel: Achleitner Biohof, BioTropic, Bio-Ilios, Biogros, Bodan, Grell Naturkost, Cbet FrischeService, Chiemgauer Naturkosthandel, ebl-naturkost, Kornkraft, Naturkost Elkershausen, Naturkost Erfurt, Naturkost Kontor Bremen, Naturkost Nord, Naturkost Schramm, Naturkost West, Ökoring, Rinklin und Terra Naturkost.